Spitzfederkalligrafie ist nicht gleich Spitzfederkalligrafie. Wodurch zeichnen sich die unterschiedliche Schriften aus? Eine kleine Typologie

Jeder hat eine bestimmte Vorstellung, wenn er „Kalligrafie“ hört – und diese Vorstellungen werden vermutlich weit auseinandergehen. Die Kunst des schönen Schreibens hat unzählige Ausprägungen. Es gibt zahlreiche Spitzfederkalligrafie-Stile, ebenso gibt Unmengen an Materialien, die man dafür verwenden kann. Und damit sind nicht nur verschiedene Farben, Tinten und Tuschen gemeint, sondern vor allem auch verschiedene Federn und weiteres „Werkzeug“, um die Schrift auf das Trägermaterial zu bringen (auch hier: unzählige Möglichkeiten …). Ich selbst schreibe sehr viel mit der Spitzfeder, und darum geht es bei mir hauptsächlich: Ich biete Workshops zu Spitzfederkalligrafie an, ihr könnt Übungsblätter und Workbooks zur Spitzfederkalligrafie herunterladen und ich schreibe Blogartikel zu Spitzfederkalligrafie. 

Spitzfedern

Neben den Spitzfedern – hier habe ich darüber schon ausführlicher berichtet – gibt es weitere Arten von Kalligrafiefedern, zum Beispiel Bandzugfedern, Redisfedern, Plakatfedern, Füllfederhalter, Glaspens, Automatic Pens, Parallel Pens, Ruling Pens, Folded Pens, Colapens, Balsaholz, Federpinsel, Pinsel in allen Ausführungen und, und, und … Mit all diesen Werkzeugen lässt sich kalligrafieren, und mit jedem Werkzeug kommen andere Ergebnisse zustande. 

Die typischen Schriften und Stile, von denen man im Zusammenhang mit der Spitzfederkalligrafie wohl am häufigsten hört, sind Copperplate, Spencerian und – ein weites Feld – Moderne Kalligrafie. Daneben gibt es aber auch z. B. Engrosser’s Script, Anglaise, Englische Schreibschrift, Zanerian, Cursive oder Madarasz. Was es damit auf sich hat – Hintergründe, Eigenschaften, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Spitzfederschriften -, darüber berichte ich hier.

Inhalt

Eigenschaften der Spitzfederkalligrafie
Copperplate
Engrosser’s Script
Spencerian
Cursive
Moderne Kalligrafie
Quellen und weiterführende Links

Eigenschaften der Spitzfederkalligrafie

Die Spitzfeder ist eine elastische Feder, bei der je nach ausgeübtem Druck die Strichstärke variiert. Indem man die Feder aufs Papier drückt, öffnet sich der Spalt zwischen den Schenkeln (so die Fachbezeichnungen) und es fließt mehr Tinte hindurch. Das heißt: Bei Aufwärtsstrichen wird wenig Druck ausgeübt, da sonst die Feder im Papier hängenbleibt, dadurch entstehen feine Haarlinien. Bei den Abwärtsstrichen verstärkt man den Druck, so entstehen sogenannte Schwellstriche, dickere Linien. Durch diese Variation von feinen Haarlinien und stärkeren Strichen erhält die Spitzfederkalligrafie ihr charakteristisches Aussehen.

Copperplate

Die Copperplate-Kalligrafie ist sicher eine der bekanntesten und elegantesten Formen der Spitzfederkalligrafie. Sie entwickelte sich in England im 17. und 18. Jahrhundert. Zu ihrer Popularisierung und Verbreitung trug maßgeblich der Schreibmeister George Bickham bei, der in seinem Buch „The Universal Penman“ (1733) Schriftbeispiele der begabtesten Londoner Kalligrafen zusammengetragen hatte. Der ursprüngliche Name dieser Schrift war (English) Roundhand, da ihre runden, fließenden Formen im Gegensatz zu den spitzen, geraden Linien der gotischen Schriften stand, die man bis dahin vorwiegend verwendet hatte (vgl. hierzu Zillers.com).

Copperplate oder English Roundhand. CC-Lizenz

Ihren Namen Copperplate erhielt die Schrift durch die Praxis des Kupferstechens. Um Druckvorlagen zu erstellen, wurde das handschriftliche Original mit einem Stichel (englisch burin), einem eher breitkantigen als spitzen Instrument, in eine Kupferplatte (englisch copper plate) gestochen. Auf dem Papier wurde die Copperplate schließlich bis zur Erfindung der Stahlfeder, wie wir sie heute für die Spitzfederkalligrafie verwenden (erfunden vom Engländer Joseph Gillott, dessen Federn noch heute im Handel erhältlich sind – hier habe ich sie getestet und mit anderen Federn verglichen – wurde sie ab 1822 im Handel angeboten), mit einem Federkiel geschrieben, der vorn ebenfalls breitkantig – nicht spitz! – zugeschnitten wurde.

Ein wesentliches Charakteristikum dieser Schrift – wenn nicht sogar das wichtigste – ist die Form der Buchstaben: Sie basieren alle auf dem Oval. Es gibt feste Vorgaben für die Buchstabenformen; allzu große Abweichungen sind nicht zu finden und nicht erwünscht. Im Idealfall sollte anhand der Schrift selbst kein Rückschluss auf den Schreiber zu ziehen sein, da sie jeweils die gleiche Erscheinungsform aufweist. Mit einer individuellen (Hand-)Schrift hat die Copperplate also nicht viel gemein. Umso mehr begrüßt diese Schrift jedoch die verschiedenen Möglichkeiten der Verzierung, und auch die Schnörkel basieren auf ovalen Formen.

Ovale

Eine weitere Eigenschaft ist die Schriftneigung: Die Copperplate hat einen Neigungswinkel von 55°. Um diesen zu üben und einzuhalten, eignen sich vorgezeichnete Schreib- und Neigungslinien, englisch guide lines und slant lines. (Auf meiner Website könnt ihr hier fertige Linienraster herunterladen. Die Website lanquach.com bietet zudem die Möglichkeit, eigene Linienraster mit verschiedenen Parametern zu generieren.) Das Verhältnis der x-Höhe, also der Höhe von kleinen Buchstaben ohne Ober- und Unterlängen wie a, e, m oder eben x, zu den Ober- und Unterlängen beträgt in der Regel 2:1:2. Das heißt, die Ober- und Unterlängen haben die doppelte x-Höhe; Buchstaben mit Ober- oder Unterlängen sind also sogar dreimal so hoch wie Buchstaben mit x-Höhe. Man findet aber auch das Verhältnis 3:2:3, wodurch die Schrift etwas gedrungener, aber nicht minder elegant wirkt.

Die Copperplate-Kalligrafie wird auch als Anglaise und Englische Schreibschrift bezeichnet. Ebenso wird (English) Roundhand als ursprünglicher Name dieser Schrift heute noch ab und zu als Synonym verwendet.

Die Copperplate bzw. die Schriften, die unter diesem Namen zusammengefasst werden, ist Ausgangsschrift für viele weitere Stile, so etwa die recht ornamentale Madarasz-Schrift.

Engrosser’s Script

Engrosser’s Script, auch Engraver’s Script, ist ein Kalligrafie-Stil, der sich um 1900 in Amerika entwickelt hat. Beeinflusst wurde er durch verschiedene englische Kalligrafie-Stile, die zur English Roundhand und somit zur Copperplate gehören. Auch seine Hauptcharakteristika entsprechen damit denen der Copperplate: Seine Buchstaben sind rechtsgeneigt und die Formen basieren auf dem Oval. Dennoch gibt es auch einige Unterschiede zur Copperplate, die die Engrosser’s Script auszeichnen (nach Grimes 2024): 

  • Die Engrosser’s Script ist keine „Cursive“-Schrift in deren eigentlichen Sinne. Das heißt, es handelt sich nicht um eine flüssige Schrift ohne allzu häufiges Absetzen der Feder. Im Gegenteil: Nicht nur einzelne Wörter, sogar jeder einzelne Buchstabe besteht aus mehreren Strichen, die zusammengesetzt werden, indem die Feder jeweils neu ansetzt. Engrosser’s Script wird somit viel eher gezeichnet als geschrieben und ist somit streng genommen keine Schreibschrift. Sie wird deutlich langsamer und bewusster ausgeführt als andere kalligrafische Stile.
  • Während die Copperplate auf runden, weichen Formen basiert, sind der Engrosser’s Script mitunter auch Winkel und Ecken zu eigen. Diese kann man besonders bei solchen Buchstaben beobachten, die sonst für ihre runden Formen bekannt sind (a, c, d, e etc.).
  • Während andere Kalligrafieformen, die üblicherweise mit der Spitzfeder geschrieben werden, von der Flexibilität der Feder eher unabhängig sind, hängt die Ästhetik der Engrosser’s Script maßgeblich davon ab. Diese Eigenschaft dürfte aber für den Otto-Normalverbraucher weniger relevant sein.

Der Name der Schrift rührt wie bei der Copperplate von der Praxis der Gravur. Die Graveure – englisch engrossers oder engravers – transferierten die handschriftlichen Exemplare mithilfe eines Stichels, einem eher breitkantigen als spitzen Werkzeug (englisch burin), auf eine Kupferplatte (englisch copper plate), um sie für den Druck vorzubereiten. In manchen Fällen war der Kalligraf gleichzeitig der Graveur, so etwa George Bickham (s. o.). Im späten 19. Jahrhundert versuchten einige Kalligrafen, die Schrift, die sich durch den Stichel produzieren ließ, zu imitieren. Dadurch entstand der Name Engraver’s Script, auch Engrosser’s Script. 

E. A. Lupfer, Lessons in Modern Engrosser’s Script – No. 6, 1937. Archiv © Masgrimes

Spencerian

Zwischen etwa 1850 und 1930 war Spencerian die Schrift, die in den USA als Standardschrift für Geschäftsschreiben und -korrespondenz verwendet wurde – also bevor die Schreibmaschine in den Büros Einzug hielt (vgl. hierzu Zillers.com).

Dieser Schriftstil geht zurück auf Platt Rogers Spencer, der sie 1840 aus verschiedenen bereits bekannten Schriften entwickelt hatte. Sein Ziel war es, eine Schrift zu schaffen, die sich schnell und flüssig schreiben ließ und dabei dennoch lesbar und elegant war. Um seine neue Schrift zu lehren, gründete Spencer eine Schule. Deren Absolventen riefen ihrerseits Ableger dieser Schule ins Leben und trugen so die Schrift weiter, bis sie bald auch in allgemeinen Schulen unterrichtet wurde. Schließlich wurde Spencerian zur Standardschrift in den USA und blieb es bis in die 1920er-Jahre. Verdrängt wurde sie schließlich, als die Schreibmaschine mehr und mehr in der geschäftlichen Korrespondenz eingesetzt wurde.

Einer der Söhne Spencers, Henry Caleb Spencer, schrieb ein Lehrbuch für diese Schrift, das jedoch erst 1866, nach dem Tod P. R. Spencers, veröffentlicht wurde. Es ist heute als Nachdruck erhältlich und hilft beim Einstieg in die Schrift und als Nachschlagewerk beim Üben. 

Die Eigenschaften von Spencerian sind denen der Copperplate recht ähnlich: Die Schrift ist rechtsgeneigt mit einem Neigungswinkel – anders als bei Copperplate – von 52° und weniger stark ausgeprägten Abstriche, besonders bei den Kleinbuchstaben. Geschuldet ist dies der Tatsache, dass Spencerian nicht nur den Anspruch eines schönen Schriftbilds, sondern auch der Schnelligkeit und Leichtigkeit des Schreibens erfüllen soll. Eine etwas stärkere Neigung und weniger Druck auf der Feder sollen helfen, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Die Formen der Buchstaben in Spencerian beruhen auf den „7 Principles“: sieben verschiedenen Strichen, aus denen sich die Buchstaben zusammensetzen. Dadurch wird die Schrift einerseits leicht erlernbar, andererseits trägt die stete Wiederholung zu ihrer schlichten Eleganz bei.

Cursive

Anders als der Name bei uns vermuten lassen würde, ist die Definition von Cursive (auch Cursive Script oder einfach nur Script) nicht die, dass es sich um eine kursive, also eine schräggeneigte Schrift handelt – obwohl sie durchaus rechtsgeneigt ist. Vielmehr handelt es sich bei Cursive um eine Schrift, deren Buchstaben miteinander verbunden werden und die flüssig, ohne Absetzen des Stifts zu schreiben ist. Hierzulande kennt man diese Art des Schreibens als „Schreibschrift“ oder verbundene Schrift.

Palmer’s Methode. CC-Lizenz

Klassische Schriftbilder der Cursive-Schrift sind die Palmer’s Hand und Zanerian. Sie entwickelten sich Ende des 19. Jahrhunderts und stellen vereinfachte Formen der Spencerian dar. Auch für die Cursive-Schrift gibt es also klare Buchstabenvorgaben. Da der Zweck der Cursive-Schrift jedoch vor allem der ist, flüssiges und schnelles Schreiben zu ermöglichen, kann sie sich je nach Schreiber sehr individuell entwickeln und dient somit als Grundlage oder Ausgangspunkt für die Entwicklung der eigenen Handschrift. Die Cursive-Schrift wurde jahrzehntelang in amerikanischen Schulen gelehrt, doch im Laufe des 21. Jahrhunderts hat man die Schreibschrift mehr und mehr vernachlässigt. Der Grund: Aufgrund der Zunahme des maschinellen Schreibens mit Schreibmaschine und später Computer gab es, so der Gedanke, keine Notwendigkeit mehr, noch eine Handschrift zu lehren. Heute darf sie an den Schulen zwar offiziell noch gelehrt werden, doch dies ist ganz überwiegend nicht mehr der Fall.

Zaner-Bloser-Methode. CC-Lizenz

Moderne Kalligrafie

Die Bezeichnung Moderne Kalligrafie bezieht sich nicht, wie die bisher genannten Schriften, auf einen bestimmten Schriftstil. Vielmehr dient sie als Oberbegriff für unzählige individuelle Kalligrafie-Stile. Ausgangsschriften können traditionelle Schriften sein wie die bereits erwähnten. Das Hauptcharakteristikum der Modernen Kalligrafie ist es jedoch, dass sie eben keinen klar vorgegebenen Formen folgt, sondern sehr eigene, individuelle Züge annehmen kann. Selbst innerhalb eines Stils können gleiche Buchstaben daher sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, was oftmals sogar gewollt ist. So könnte man sagen, dass die Regeln, die in den traditionellen Stilen zu finden sind, in der Modernen Kalligrafie bewusst gebrochen und umgangen werden. Die Moderne Kalligrafie wird häufig als freier, zwangloser, lockerer und unkonventioneller wahrgenommen. Damit wird sie oft der Handschrift nähergestellt als der Kalligrafie als solcher:

„Modern calligraphy“ is the folk art class of script forms that is easy for someone to learn, compared with the more formal hands of calligraphy that take much time and effort to master. Modern calligraphy is a class of trendy scripts that are characterized by bounced and rounded lettering, which is closer to freestyle handwriting than historical calligraphy and its variation.

Steve Husting, Kalligraf

In der Tat ist die Moderne Kalligrafie nicht so exakt auszuführen wie traditionelle Kalligrafie-Stile. Damit ist sie auf der einen Seite gerade für diejenigen, die mit der Kalligrafie beginnen, etwas zugänglicher, da schneller Erfolge zu sehen sind. Moderne Kalligrafie verzeiht nicht nur Unregelmäßigkeiten, sie erwünscht sie geradezu. Auf der anderen Seite ist es für einige Menschen einfacher, sich zunächst an vorgegebene Regeln und Formen zu halten und erst später etwas freier in ihrem Ausdruck zu werden. Ihnen fällt es leichter, sich zunächst mit den klassischen Stilen zu beschäftigen.

Der Begriff der Modernen Kalligrafie wird teilweise so weit gefasst, dass auch das Hand- oder Brushlettering (das Schreiben mit einem Pinselstift) oder die Faux Calligraphy (auch Fake Calligraphy) in dieser Kategorie genannt werden. (Letztere wird mit einem „normalen“ Stift geschrieben. Erst im Nachgang werden die Abstriche noch einmal nachgezogen, um den Effekt, den die Spitzfeder hervorruft, zu imitieren.) Somit ist es nahezu unmöglich, eine klare Definition dieses Stils zu formulieren, und jeder ist vermutlich selbst ein wenig dazu aufgefordert, Moderne Kalligrafie für sich zu definieren und vor allem zu interpretieren.

Verschiedene Stile Moderner Kalligrafie

Quellen und weiterführende Links

Palmer Method: https://palmermethod.com
Zanerian: https://en.wikipedia.org/wiki/Zaner-Bloser
Spencerian: https://archive.org/details/cu31924029485467
Madarasz: https://www.iampeth.com/pdf/secret-skill-madarasz

Copperplate und Spencerian
Interview with Younghae Chung: https://www.thehappyevercrafter.com/blog/logos-calligraphy/
Zillers.com: Difference between Copperplate and Spencerian: https://zillers.com/learning/spencerian-and-cooperplate/
Demystifying the Copperplate/Spencerian Script Enigma https://www.iampeth.com/lesson/engraver’s-script/demystifying-copperplatespencerian-script-enigma
Theory of the Spencerian System of Practical Penmanship. In Nine Easy Lessons. Nachdruck 1985 der Ausgabe von 1874.

Engrosser’s Script
David Grimes: https://masgrimes.com/engrossers-script
Iampeth: https://www.iampeth.com/lesson/script-copperplate-style-engrosser’s-script
The Ins and Outs of Engrosser’s Script: Interview with David Grimes: https://www.thehappyevercrafter.com/blog/david-grimes/
Roundhand or Engrosser’s Script: https://www.iampeth.com/lesson/roundhand/roundhand-or-engrossers-script

Wer Engrosser’s Script von der Pike auf lerenen will, ist bei David Grimes und seinem Programm „Dreaming in Script“ genau richtig. © Masgrimes