Verändere einzelne Parameter deiner Schrift und du veränderst ihren Ausdruck

Hast du schon mal Experimente mit deiner eigenen Schrift gemacht? Eigentlich eine rhetorische Frage, denn da du dich für Kalligrafie und vielleicht auch Schrift im Allgemeinen interessierst – sonst wärst du wohl nicht über diese Seite gestolpert –, gehe ich davon aus, dass du dich auch schon ausgiebig mit deinem eigenen Stil befasst hast: hast vielleicht die ein oder andere Buchstabenform entwickelt und wieder verworfen, hast mit Schriftneigung, x-Höhe oder Buchstabenabstand herumprobiert. Aber hast du auch schon mal ein einzelnes Wort in verschiedenen Stilen ausprobiert, indem du jeweils einen bestimmten Parameter variiert hast? Falls nicht, dann schnapp dir doch einen Stift (ein Bleistift reicht völlig) und mach mit! Und falls doch: mach trotzdem gern mit 😉

Ausdrucksformen Moderner Kalligrafie

Für unser Vorhaben, mit der eigenen Schrift zu experimentieren, eignet sich Moderne Kalligrafie bestens. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar den Prinzipien der Spitzfederkalligrafie folgt, ihre Regeln aber wesentlich freier angewendet werden als bei klassischen Stilen wie z. B. Copperplate oder Spencerian. Das heißt, die Buchstabenformen der Modernen Kalligrafie sind wesentlich individueller, moderner und unkonventioneller als bei klassischer Kalligrafie. Moderne Kalligrafie kann damit unendlich viele Ausdrucksformen annehmen – und bleibt dennoch Moderne Kalligrafie.

Dein Wort

Bevor du loslegst, überlege dir ein Wort. Entweder nach dem Kriterium der Bedeutung, die es für die hat – ich selbst hatte mir zunächst das Wort „Freundlichkeit“ ausgesucht ­–, oder nach seinen formalen Eigenschaften: Beginnt es mit einem Buchstaben, den du gerne schreibst (oder im Gegenteil: mit einem Buchstaben, den du unbedingt üben solltest, weil er dir nie gelingt)? Ist es nicht zu lang und nicht zu kurz? Hat es sowohl Ober- als auch Unterlängen, die variiert werden können? Das Wort „Freundlichkeit“ hat keine Unterlängen, das fehlte mir – daher habe mir schließlich ein neues Wort nach seiner Form ausgesucht.

Mein Wort ist also Bauchgefühl Augenstern Frühling Springinsfeld Bauchpinselei Tunichtgut Hoffnungsschimmer Sternschnuppe Freiheitsdrang Tagtraum Schneegestöber Morgentau Schluckspecht Pfennigfuchser Luftschlange Einfaltspinsel Habseligkeit Frühlingserwachen Herzenswunsch Blickfang Fingerspitzengefühl – ich kann mich nicht entscheiden!

Starte mit deiner besten Karten-Schrift

Los geht es mit deinem „Signature Style“, also mit der Schrift, die du entweder für dich selbst schon entwickelt hast oder auf die du, wenn es ans Kalligrafieren geht, immer gern zurückgreifst, weil sie dir recht flüssig aus der Feder fließt. Wenn du noch keine Kalligrafie-Erfahrungen hast: Starte doch mit deiner besten „Karten-Schrift“.

Du fragst dich vielleicht: Geht denn nicht meine Handschrift? Doch, bedingt geht auch die. Bei der Handschrift ist es allerdings meist so, dass sie sehr schnell von der Hand geht und kaum bewusst geschrieben wird, sie ist somit wenig gesteuert. Sobald du dich aber mit deiner Schrift befasst – wie wir es uns ja jetzt vornehmen –, schreibst du bewusst: Auch deine Handschrift musst du also vermutlich erst einmal „bewusst“ schreiben, bevor die Übung funktioniert und du verschiedene Stile produzierst. Und schau sie dir nun einmal an: Würdest du sie noch als deine Handschrift bezeichnen?

Variationen und Experimente

Ich zeige dir im Folgenden meinen Signature Style, meine Ausgangsschrift, und die einzelnen kleinen Variationen und Manipulationen, die ich in jedem Schritt vornehme.

  1. Dies ist mein Signature Style in der Modernen Kalligrafie: lockere Buchstabenformen, aber dennoch eine gewisse Gleichmäßigkeit. Die Buchstaben sind meist miteinander verbunden, sie stehen alle auf einer Schriftlinie, haben großenteils die gleiche x-Höhe und schmale Ober- und Unterlängen. Der Buchstabenabstand ist sehr regelmäßig. 
  1. Aufgeräumter: Der Stil ist meinem Signature Style sehr ähnlich, jedoch noch gleichmäßiger, denn hier sind nun wirklich alle x-Höhe gleich hoch – schau dir insbesondere die Buchstaben h und n an. Auch das s habe ich hier variiert.
  1. Reduziert: Die Ober- und Unterlängen haben keine Schleifen, sondern greifen nach rechts (Oberlängen) bzw. links (Unterlänge) aus.
  1. Tanzend mit Verbindung: Nicht alle Buchstaben liegen auf der Schriftlinie, einige greifen tiefer. Dennoch sind die Buchstaben hier großenteils miteinander verbunden.
  1. Tanzend ohne Verbindung: Einige Buchstaben enden unterhalb der Schriftlinie, sind dann aber nicht mehr mit dem folgenden Buchstaben verbunden. Achte hier z. B. auf die Buchstaben r, l oder h.
  1. Großer Zeichenabstand: Die einzelnen Buchstaben haben einen recht großen Abstand zueinander. Dabei werden nicht alle Buchstaben miteinander verbunden, so beim l, s und w.
  1. Betone Längen: Hier haben die Ober- und Unterlängen große Schlaufen erhalten und werden dadurch – gerade im Vergleich zu der eher geringen x-Höhe – sehr betont.
  1. Reduziert und aufrecht: Die Schriftneigung ist sehr gering im Vergleich zu den üblichen 55°. Die Schrift ist aber nicht nur eher aufrecht, sondern noch dazu sehr reduziert und ohne Schnörkel oder Schlaufen.
  1. Verhältnis: Die x-Höhe ist bei dieser Variation deutlich größer als die Ober- und Unterlängen. Dadurch wirkt die Schrift viel größer, obwohl der Platz, den sie inklusive der Längen einnimmt, der gleiche ist wie bei den anderen Variationen.
  1. Eckige Formen: Bei diesem Stil gibt es kaum Rundungen, die Buchstaben haben eher eckige Formen (mit Ausnahme des s, daran ließe sich noch etwas feilen).
  1. Runde Formen: Diese Variation basiert weniger auf einer ovalen Form, sondern hier dominieren Rundungen und Kreisformen. Dadurch sind Ober- und Unterlängen kaum größer, als es die x-Höhe ist.

Du bist dran!

Nun hast du ein paar Inspirationen erhalten, was sich an deinen Buchstaben alles verändern lässt:

  • die Verbindungen von Buchstaben
  • die Schriftline
  • die Form der Ober- und Unterlängen
  • der Buchstabenabstand, das Verhältnis der x-Höhe zu Ober- und Unterlängen
  • die Buchstabenrundung
  • die Schriftneigung
  • usw.

Und nicht zu vergessen ein Aspekt, der hier nur untergeordnet eine Rolle gespielt hat, da dadurch die Möglichkeiten schier unendlich werden: die Formen der einzelnen Buchstaben!

In diesem Sinne: Lass deiner Fantasie freien Lauf, tob dich aus – und lass die Experimente beginnen!

Wenn du schon immer Kalligrafie lernen wolltest, aber keine Möglichkeit hast, einen Workshop zu besuchen, dann ist vielleicht dieses Workbook das richtige für dich: Knackig und auf den Punkt, mit vorgegeben Buchstaben des kleinen und großen Alphabets, ganz viel Platz zum Üben und vielen unterschiedlichen Übungswörtern.